Journalist Tom Strohschneider greift den Aufruf gegen Hartz-IV-Sanktionen kritisch auf – und er hat Recht! – Aber gerade deswegen ist der Aufruf wichtig!

Tom Strohschneider ist Journalist und Redakteur im Meinungsressort der taz. Ich schätze ihn sehr als Kenner und Analyst des deutschen Politikbetriebs und als Menschen, der sich immer sehr offen und aufgeschlossen zeigt, auch gegenüber anderen Meinungen als der, die er selbst vertritt – eine keineswegs selbstverständliche Eigenschaft, auch nicht unter sich als links begreifenden Journalisten. Neben seiner journalistischen Tätigkeit bei der taz unterhält Tom Strohschneider auch die Internetseite www.lafontaines-linke.de, auf der er vor allem die Entwicklung der Partei Die Linke verfolgt und bewertet, aber auch der Linken insgesamt Platz einräumt.

Jetzt hat Tom Strohschneider ebenda den Aufruf “Farbe bekennen – gegen entwürdigende Hartz IV Praxis und für berufliche Förderung” unter der Überschrift Aufrufen vs. Abstimmen kritisch aufgegriffen – und hat mir damit ein Stück Arbeit abgenommen (Ich wünschte nur, sein Artikel wäre in der taz erschienen. Vielleicht erfüllt er ja noch diesen Wunsch. Denn der Aufruf wünscht sich geradezu eine rege, gern auch kritische Berichterstattung). Denn Tom Strohschneider legt den Finger in eine Wunde. Diese Wunde aber wird immer noch mit allen Mitteln versucht, verdeckt zu halten – innerhalb der SPD selbst, aber auch innerhalb der GRÜNEN – mit tatkräftiger Unterstützung der Medien, die nicht eben selten Druck von außen aufbauen und so parteiinterne Diskussionen ersticken, bevor sie auch nur Zeit hatten, sich zu entwickeln. Die Wunde offen zu legen, sichtbar und – vielfach den Beteiligten selbst – bewusst zu machen, zu parteiinternen Diskussionen anzuregen, Anstoß zu geben, diese auch nach draußen zu den Menschen zu tragen, ist durchaus mit diesem Aufruf verbunden. Viel zu lange haben die Linken in der SPD geschwiegen – und viele schweigen noch. Viele, die sich selbst als “links” begreifen, sowohl in der SPD als auch bei den GRÜNEN, haben Hartz IV und andere “Reformen” mitgetragen und tun dies noch. So haben zum Beispiel bisher kein Sigmar Gabriel, kein Frank Steinmeier – der sich selbstverständlich nicht als links begreift – und keine Renate Künast und kein Jürgen Trittin auf unseren Aufruf geantwortet, auch kein Torsten Albig und keine Hannelore Kraft, kein Robert Habeck und keine Sylvia Löhrmann – auch die Spitzenkandidaten der Linken aus Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen haben noch nicht unterzeichnet, Antje Jansen und Katharina Schwabedissen.

Wirtschaft und Gesellschaft begleitet jene fatale Entwicklung seit langem sehr kritisch, nicht, um die SPD oder die GRÜNEN schlecht zu machen – das tun sie selbst zur Genüge -, sondern, um mit Kritik zu versuchen, Alternativen aufzuzeigen. Was muss sozialdemokratische Politik leisten? Was muss grüne Politik leisten? Symptomatisch dafür, dass sich die SPD-Führung, aber nicht nur die Führung, diese Frage, diesem Anspruch, nicht mehr stellt, ist, dass SPD-Parteichef-Gabriel auf dem SPD-Bundesparteitag im Dezember 2011 die “Neuausrichtung” der SPD für abgeschlossen erklärte. Die auf dem Parteitag beschlossene Politikausrichtung, die dem “linken Flügel” nur sehr bedingt Erfolge bescherte, ließ dennoch viele Linke in der SPD begeistert oder zumindest zufrieden nach Hause fahren.

Keineswegs für abgeschlossen erklärte allerdings Hilde Mattheis die Neuausrichtung und widersprach Gabriel nicht nur in diesem Punkt offen in einem Interview, dass ich für den unmittelbar nach dem Parteitag mit ihr führte. Hilde Mattheis hat auch den Aufruf mit als Erste unterzeichnet. Man muss die wohl für jeden Außenstehenden erschreckende Enge des Partei- und Fraktionslebens kennen, um einschätzen zu können, wieviel Mut es erfordert, überhaupt einmal wieder aus der geradezu preußischen Fraktionsdisziplin auszubrechen. Kostprobe: Als ein Abgeordneter in einer zentralen politischen Frage gegen das vorher festgelegte Abstimmungsverhalten der Fraktion stimmte, wurde ihm von einem führenden Kopf mitgeteilt, dass er dies “persönlich nehme”. Argumente können in solch einer Atmosphäre schwerlich auf fruchtbaren Boden fallen. Soweit ich es beurteilen kann, herrscht innerhalb der Fraktionen unter den Abgeordneten – zumindest unter vielen auch kritischen Geistern – eine regelrechte Atmosphäre der Angst, frei seine Meinung zu äußern, zu vertreten und auch im Abstimmungsverhalten zum Ausdruck zu bringen.

Anders als Tom Strohschneider halte ich daher eine “Enthaltung” der Unterzeichner/innen des Aufrufes aus der SPD bei den Anträgen über die Hartz-IV-Sanktionen im Deutschen Bundestag schon für einen gewaltigen Fortschritt – auch wenn ich mir persönlich ein klares Votum für die Abschaffung der Sanktionen gewünscht hätte oder einen eigenen Antrag, der dies zum Ausdruck gebracht hätte. Ebensolch ein Fortschritt ist es natürlich, dass sich die Fraktion der GRÜNEN gegen Hartz IV-Sanktionen ausspricht, deren Existenz die GRÜNEN ja gemeinsam mit der SPD verantworten. Die Rede von Markus Kurth – ebenfalls einer der Erstunterzeichner des Aufrufes – ist auch inhaltlich sehr überzeugend. Natürlich zeigt das Abstimmungsverhalten auch, dass die kritischen und selbständigen Köpfe eine verschwindende Minderheit in der Fraktion sind – was sicherlich für alle Bundestagsfraktionen gilt. Gerade die durchaus berechtigte Kritik von Tom Strohschneider unterstreicht für mich daher die Wichtigkeit des Aufrufes und dessen Fortführung.

Der Aufruf ist übrigens völlig unabhängig von der Bundestagsdebatte und den ihr zugrundeliegenden Anträgen der GRÜNEN und LINKEN entstanden. Von den Anträgen habe ich erst von Katja Kipping erfahren, die wiederum vom Aufruf – sehr positiv – überrascht war, als ich sie anrief, um zu fragen, ob sie, neben den anderen Erstunterzeichnern/innen, bereit wäre, den Aufruf zu unterschreiben.

Da Tom Strohschneider die Rede von Gabriele Hiller-Ohm bereits kritisch aufgegriffen hat, sei an dieser Stelle ein anderer Beleg dafür erbracht, dass in der SPD reichlich Diskussionsbedarf besteht, allein schon in der Frage von Hartz IV und dem zentralen Punkt der Sanktionen. Auch, dass der folgende Brief mich erreichte und so das Licht einer breiteren Öffentlichkeit erblickt, ist dem Aufruf geschuldet; denn ohne ihn, dessen schnelle Verbreitung und dem – ich muss es noch einmal hervorheben – Mut und der Motivation der Unterzeichner/innen, hätte mich der folgende Brief von Anette Kramme sicher nicht erreicht, sondern wäre tatsächlich als Standardantwort Hartz-IV-Kritikern, darunter sicherlich viele Betroffene, vorbehalten geblieben, die sich wohl in nicht geringer Zahl – sonst wäre dieser “Musterbrief” wohl nicht entstanden – an SPD-Bundestagsabgeordnete wenden.

Hier der Text des “Musterbriefes” von Anette Kramme, SPD, Mitglied des Deutschen Bundestages und Sprecherin der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales:

“Berlin 16.04.2012

vielen Dank für Ihre E-Mail, mit der Aufforderung § 31 SGB II ersatzlos zu streichen.  Da aus Ihrer Mail nicht klar erkennbar ist, ob Sie nur mich oder auch andere MdBs der SPD angeschrieben haben, antworte ich Ihnen als Sprecherin meiner Fraktion für Arbeit und Soziales zentral.

Viele Menschen machen schlechte Erfahrungen mit dem Jobcenter, fühlen sich mies betreut und empfinden in vielen Regelungen das Misstrauen des Gesetzgebers gegenüber den Antragstellern. Leider kann nicht immer ausreichend differenziert werden, und der Betreuungsschlüssel – wie viele Menschen ein Bearbeiter zu betreuen hat – ist noch immer recht ungünstig. Dass es eben auch Missbrauch gibt, ist eine Tatsache. Im Rahmen seiner Möglichkeiten versucht der Gesetzgeber hier Grenzen zu setzen. Die treffen leider manchmal auch diejenigen, die möglicherweise aus Unkenntnis oder falscher Beratung irgendwelche Regeln verletzt haben.

Sie können sich sicher vorstellen, dass sich in vielen Briefen auch der Unmut der Menschen ausdrückt, die Missbrauchsfälle persönlich kennen und die selbst wegen prekärer Beschäftigung weiter auf Grundsicherung angewiesen sind. Die Möglichkeit zu sanktionieren muss es daher geben, gerade auch im Sinne sozialer Gerechtigkeit.

Diese Missbrauchsfälle sind aber die Ausnahme. Die Diskussion um angeblich faule Hartz-IV-Empfänger ist verfehlt, die Mehrheit will arbeiten. Viele Bürger bitten in meiner Sprechstunde sogar um Hilfe beim Formulieren von Bewerbungen, weil sie endlich wieder einen Job haben wollen nach langer Arbeitslosigkeit. Auch zahlreiche Studien belegen, dass die Mehrheit der ALG-II-Empfänger arbeiten will.

Die SPD sieht durchaus Änderungsbedarf bei den Sanktionsregelungen. Wir wollen, dass die Regelungen zu den Sanktionen im SGB II individueller auf den Einzelfall eingehen. Art und Umfang einer Sanktion müssen abgestuft und leichter zurückgenommen werden können. Zudem müssen die Sanktionsregelungen wissenschaftlich evaluiert werden, um zu überprüfen, inwieweit sie mit der Sicherstellung des soziokulturellen Existenzminimums in Konflikt geraten. Drittens sollten die gesetzlichen Regelungen dahingehend angepasst werden, dass eine schriftliche Rechtsfolgenbelehrung notwendige Voraussetzung für die Anwendung einer Sanktionsregelung ist. Viertens gibt es keinen erkennbaren Grund, warum Jugendliche härter sanktioniert werden als Ältere.

Wir als SPD wollen, dass gute Arbeit und ein menschenwürdiges Dasein ohne Armut für jeden möglich ist. Aus diesem Grund fordern wir unter anderem einen allgemein gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn. Wir treten dafür ein, dass prekäre Beschäftigung abgebaut und normale sozialversicherungspflichtige Arbeit wieder zum Standard in Deutschland wird. Und wir müssen definitiv mehr tun für diejenigen, die sich schwer tun auf dem Arbeitsmarkt. Gerade Langzeitarbeitslose brauchen mehr Förderung. Dass die Bundesregierung jetzt ausgerechnet die Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik gekürzt hat, ist eine Katastrophe. Die Menschen brauchen mehr Betreuer, mehr Jobvermittler, bessere Weiterbildungen und sinnvolle Kurse, statt von der FDP zum Schneeschippen verdammt zu werden.

Mit freundlichen Grüßen

Anette Kramme”

(Original Musterbrief von Anette Kramme für Kritiker der Hartz-IV-Sanktionen)

Ich lasse die Aussagen in diesem “Musterbrief” an dieser Stelle erst einmal so stehen. Er wird auf Wirtschaft und Gesellschaft noch in einem breiteren Kontext kritisch kommentiert werden.

Tom Strohschneider schreibt in seinem Beitrag, der Aufruf sei “ein parteiübergreifendes Dokument des guten Willens, aber doch kaum mehr.” Ich hoffe, er behält nicht Recht. Wir beabsichtigen den Aufruf bis zur Bundestagswahl am Laufen zu halten – schon in den nächsten Tagen werden hierzu weitere Aktionen folgen. Welche Wirksamkeit der Aufruf entfaltet, hängt vor allem von der Zahl der Unterzeichner/innen und deren Mithilfe ab; die eindrucksvollen Kommentare, die einige Unterzeichner/innen ihrer Unterschrift beifügten und die wir in die Unterzeichner/innenliste unter dem Text des Aufrufes wiedergeben, sind übrigens ein lesenswertes Zeugnis der Misstände, die Hartz IV hervorgerufen hat und weiter hervorruft.


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